Der Frankfurter Kunstverein taucht ein in virtuelle Welten
Annette Krämer-Alig | Echo Online, 23 October 2017
Was ist so schlimm auf dem Treppen-Podest des Steinernen Hauses am Frankfurter Römerberg? Dort ist doch nur der Auftakt zur Ausstellung „Perception is Reality“, und auf dem Boden liegt ein Holzbrett. Trotzdem: „Das ist ja schrecklich“, sagt das junge Mädchen, das zwei Schrittchen auf diesem Brett wagt, sichtlich verängstigt und ziemlich laut, während sie nach der schützenden Hand ihres Vaters greift. Ein fragwürdiger Schutz, wie gleich darauf ebenso laut zu hören ist: Nun tönt die Stimme schreckerfüllt herüber.
Zwei Menschen, die eher in eine Psychiatrie als in eine Präsentation gehören? Keineswegs. Ihre Reaktion beweist im Gegenteil, wie nah die beiden dran sind an dem, was wir als Wirklichkeit bezeichnen. Sinne und Gehirn funktionieren bestens, denn die beiden übersetzen brutale Höhenreize in Höhenangst – wobei diese Reize freilich nur Teil des 2016 entwickelten Spiels „Plank Experience“ sind. Es hat Vater und Tochter virtuell unabhängig gemacht von der Welt und sie dabei mit ihrem Brett auf die Höhen eines Hochhaus-Dschungels verfrachtet, wo jeder Schritt daneben nach allen Erfahrungswerten den Tod bedeuten muss. Für solches Erleben muss Scotty heute schon längst keinen Menschen mehr upbeamen. Eine Virtual-Reality-Brille samt einer guten Simulation genügt zur Trennung von Körper und Geist, dem „body/mind split“, wie die Schau des Frankfurter Kunstvereins überzeugend und erschreckend beweist. Franziska Nori, Direktorin des Kunstvereins und Kuratorin der Schau, präsentiert analoge und digitale Kunstwerke, Virtual-Reality-Arbeiten, konzeptionelle Fotografie, Rauminstallationen und Anwendungen aus der technischen Forensik des baden-württembergischen Landeskriminalamts. Dabei wird überwältigt und viel in Frage gestellt. Denn die Konstruktion von Wirklichkeit stellt – zumindest physikalisch – als sicher vermittelte Werte ebenso in Frage wie unser Reaktionsvermögen. Aus der „Perception of Reality“, der Wahrnehmung von Wirklichkeit, ist eben „Wahrnehmung ist Wirklichkeit“ geworden, wie der Ausstellungstitel sagt.
Im Saal des Landeskriminalamts beispielsweise begibt der Besucher sich mit der VR-Brille auf der Nase ganz wie der zeitgenössische Polizist an virtuell aufbereitete Mord-Tatorte, und er wird auch in die Pathologie eingeladen, wo eine unappetliche Leiche von allen Seiten und in der Draufsicht zur Nahuntersuchung bereit liegt.
Marnix de Nijs sorgt bald danach für schlechte Erfahrungen in Spielwelten. „Run, motherfucker, run“ hat er seine interaktive Rauminstallation genannt, in der er den Besucher auf einem Laufband mit interaktiver Technik auf eine gespenstische Nachttour durch ein düsteres Rottterdam schickt. Sie endet darin, dass der Abbruch dieser Tortur zum realen Fall wird.
Doch nicht nur Schrecken bereitet Erschrecken. Wie kann es sein, dass der Entschluss, sich mit der VR-Brille und Kopfhörern auf eine Schaukel zu setzen und diese als Steuerungselement zuzulassen, so willfährig macht, dass man die artifizielle Landschaft und die läppisch-neckische Musik akzeptiert, sogar glaubt, vom Boden abzuheben und über diese Papiercollage-Welt zu schweben?
Dazu ist zu lesen, auch die VR-Arbeit „Swing“ von Christin Marczinzic und Thi Binh Minh Nguyen setze an der Körper-Geist-Trennung an: "Durch die Gleichschaltung von Bewegung und Bild entsteht trotz Abstraktion eine plausible Illusion."
Ein Ort des Stillstands
Dagegen wirken die analogen Kunstwerke dieser Schau dann schon fast wie Erlösungen in die Realität. Das sind sie freilich nicht, wie unter anderem Hans Op de Beecks naturgetreu konstruierte, aber monochrom grau gestaltete Rauminstallation "The Garden Room" zeigt. Auch diese fiktive Parallelwelt mit ihren Spiegelwirkungen ist eine konstruierte Unendlichkeit: Raum wird hier ganz analog aufgelöst, Zeit bringt nur der Betrachter selbst durch seine Bewegung in den Ort des Stillstands. Er selbst ist zur Figur dieses Spiels geworden.