Wirklicher als die Wirklichkeit
Dierk Wolters | Frankfurter Neue Presse, 12 October 2017
Sie stehen im Erdgeschoss, schauen auf die Straße. Steigen dann in den Fahrstuhl, drücken einen Knopf, fahren nach oben. Die Fahrstuhltür öffnet sich, und vor Ihnen – nichts als ein schmales, wackeliges Holzbrett. Links und rechts der Abgrund: 160 Meter geht es in die Tiefe. Soll man den Schritt nach vorn wagen?
Es ist das berühmte „Plank“-Experiment, das im ersten Stock des Kunstvereins aufgebaut ist. Es braucht dazu nichts als eine Virtual-Reality-Brille – und ein echtes Brett. Man steht auf diesem Brett, weiß, dass es auf dem Steinfußboden des Kunstvereins liegt, und muss trotzdem alle Willenskraft aufbringen, um einen Schritt seitwärts zu wagen – dorthin, wo man den Abgrund sieht. Es ist ein faszinierendes Erlebnis für jeden, der sich dem aussetzt. Und eines, das alle zum Nachdenken bringt: Kunstkenner genauso wie Grenzerfahrungs-Freaks, Gamer wie Sci-Fi-Fans.
Mitten im Mordszenario
Was geschieht hier, wenn man zwar weiß, dass es keinen Abgrund gibt, ihn aber virtuell sieht? Der Körper kommt gegen den Verstand nicht an, der Sehsinn siegt. Ein klassischer „Body-Mind-Split“, so nennen es Psychologen. Längst arbeiten Therapeuten mit der virtuellen Realität, um Höhenangst zu bekämpfen.
Auch Kriminaltechniker setzen auf virtuelle Räume. Im Raum neben dem Planken-Experiment hat das Bayerische Landeskriminalamt Bildschirme und VR-Brillen zur Verfügung gestellt, die den Nutzer in verschiedene Räume versetzen, in oder neben denen Morde geschahen. Seit neun Jahren nutzen Polizisten diese digital erfassten Räume, um sie jederzeit wieder besuchen und ihre Ermittlungen fortsetzen zu können. Präzise Messverfahren mittels Laserscannern oder Computertomographie machen es überdies möglich, dreidimensionale Rekonstruktionen von Körpern oder Körperteilen herzustellen. So ist es zum Beispiel möglich, dass ein Gericht einen per 3D-Drucker hergestellten Schädel zur Beweisaufnahme verwendet, den es in Wirklichkeit schon lange nicht mehr gibt.
Für die neue Ausstellung des Kunstvereins hat Direktorin Franziska Nori den Mut gehabt, sich weit über die üblichen Grenzen der Kunst hinauszuwagen. Sie hat Messen wie die Cebit und Gamescom besucht. Ganz oben im Haus kann man sich per Video durch eine Stadt hetzen und, wenn es arg kommt, vom Laufband schmeißen lassen, im Untergeschoss per Spielkonsole die Welt als Einzeller, Baum, Stein oder Galaxie anschauen – die menschliche Perspektive ist wahrlich nicht die einzige, um die Umwelt zu betrachten.
Alles ist künstlich
Folgerichtig auch heißt das Spiel des Künstlers und Game-Entwicklers David OReilly „Everything“. All dies verschiebt die Grenzen von Wahrnehmung und Wirklichkeit, und weil dies so ist und erst der Anfang einer Entwicklung, deren Ende gar nicht absehbar ist, ist es so wichtig, sich ihr künstlerisch zu stellen. Was bedeutet dies für den Menschen, wie wird er künftig mit der Wirklichkeit umgehen und, vor allem: Wie wird die virtuelle Wirklichkeit sein Leben verändern?
Nori sprengt das traditionelle Kunstverständnis auf, um dann klug wieder dorthin zurückzuführen: etwa, indem sie neben der virtuellen Schaukel-Fantasielandschaft von Christin Marczinzik und Thi Binh Minh Nguyen, die in eine rosafarbene Zaubertraumwelt hineinführt, einen „echten“, aber zugleich ebenfalls zutiefst unechten Raum zeigt, den der Künstler Hans Op de Beeck geschaffen hat: grau in grau mit grauen Sofas, grauen Bäumen, grauem Reh, einem Seerosenteich und in unendliche Tiefen weisenden Spiegelwänden. Auf den ersten Blick sieht man: Alles hier ist künstlich. „Unleugbar falsch, aber trotzdem fühlt man sich eingeladen, sich zu setzen“, sagt der Künstler über seine Oase, die man genießen kann wie eine echte, obwohl sie nicht verheimlicht, in jedem Detail „ironischer Kitsch“ zu sein. Auch dies lehrt uns viel über unseren Empfindungsapparat: Wie bereitwillig lassen wir uns täuschen und einlullen von Seerosen-Harmonie auf glattem Wasserspiegel.
Was heute noch dick verkabelt werden muss, läuft morgen schon per Funk. Immer riesigere Datenvolumina und immer smartere Hardware machen es immer wahrscheinlicher, dass die virtuelle Wirklichkeit sich bald auch ohne klobige VR-Brille der wirklichen Wirklichkeit beigesellt.
Ist der Marmorblock, den Alicia Kwade im Obergeschoss zeigt, nun ein Original oder eine 3D-Kopie? Mathematisch ist das halb gefräste, halb unbehauene Trumm jedenfalls exakt erfasst – auf ausgedruckt 30 000 Seiten, die die Wände bedecken: eine Marmorskulptur, Inbegriff künstlerischer Einmaligkeit, per Quelltext jederzeit reproduzierbar! Willkommen im Zeitalter der multiplen Wirklichkeit.