Im Totenreich seiner Seele
Judith von Sternburg | Frankfurter Rundschau, 6 November 2018
Aufwendig und mit großem Effekt richtet Hans Op de Beeck im Paketpostamt Stuttgart Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ ein.
Die Ereignisse in Béla Bartóks 1918 uraufgeführtem Einakter „Herzog Blaubarts Burg“ auf ein Libretto von Béla Balász sind so ungeheuerlich und zugleich unbegreiflich, dass viele Inszenierungen versuchen, durch Abstraktionen Boden unter den Füßen zu gewinnen. Auch wenn jeder vernünftige Mensch voraussetzt, dass Judit, soeben im Haus ihres Bräutigams eingetroffen, nicht buchstäblich auf Folter- und Waffenkammern, Tränenseen, blutende Pflanzen und quasi tote Vorgängerinnen trifft, herrscht doch eine große Finsternis in der Seele des wohlhabenden Aristokraten. Denn es wird hoffentlich nur der Blick in seine sieben Seelenräumlichkeiten sein, den Judit vom Geliebten – einer guten, aber windigen Partie – erzwingt. Aber ist „hoffentlich nur“ hier die richtige Wendung? Selbstverständlich nicht.
Auch Hans Op de Beeck abstrahiert, aber nur mit Blick auf den Graus hinter den auch in Stuttgart nicht vorhandenen Türen. Was den Blaubartschen Seelensumpf betrifft, was die Todtraurigkeit betrifft, so wird das Publikum selten so tief und unmittelbar hineingeführt wie jetzt im Paketpostamt. Hier zeigt der belgische Künstler und Regisseur seine Produktion für die Oper Stuttgart.
„Hineingeführt“ ist wiederum genau die richtige Wendung. Vor dem Eintritt in die große, entsetzlich dunkle Halle gibt es Gummiüberschuhe für alle. In kleinen Gruppen geht es rein, geleitet von hinreißend freundlichem Personal, das auch in die Handlung einführt (locker, aber triftig: nein, diese beiden hätten kein Paar werden dürfen, und doch kommt so etwas immer wieder vor). Gut knöcheltief steht das Wasser, man muss langsam gehen und aufpassen. Man erkennt eine Art Steg in der Mitte, kahle Bäume, Sandhügel, jammervolle Glühbirnchen, seltsamerweise auch Fahrräder, uralte Fahrräder, aber vor allem will niemand seinen Vordermann aus dem Blick verlieren. Wer seine Reihe und seinen Platz erreicht hat, kann in Ruhe schauen. Sieht die Menschenschlängelchen durch das schwarze, punktuell angeleuchtete Wasser waten, immer neue Schlängelchen treffen ein. Dazwischen wirklich ein Steg, Hügel, Geäst, wirklich Fahrräder. Dazu Blechbläser, die hauchzart Bártok anspielen. Manchmal wird laut geatmet, gewispert.
Das ist keine nächtliche Wattwanderung, das ist eine Fantasie über das Totenreich. Gäbe es das Totenreich, so könnte es aussehen, so könnte es sich auch anfühlen. Nicht schlimm, nicht übermäßig aufregend, eher ruhig, und die Menschen nurmehr leise Schatten. So kennt man sie nicht.
Das geht eine ganze Weile so. Die einen können sich nicht sattsehen daran, die anderen schon. Keiner muckt.
Als alle sitzen, zu beiden Seiten des Stegs, bloß schemenhaft zu sehen, kommt der Dirigent Titus Engel auf einem Fahrrad herangefahren. Nicht unerwartet, aber doch plötzlich ist am Ende des Stegs das Orchester sichtbar geworden. Die Musik setzt ein. Judit nähert sich durchs Wasser mit einem großen Rucksack. Blaubart hat ebenfalls ein Fahrrad dabei. Judit ist befremdet, aber interessiert. Blaubart kennt sich aus, ist aber ein wenig verlegen. Claudia Mahnke fasst Falk Struckmann an die Brust und bemerkt, dass die Wände feucht sind. Das Totenreich ist Leib und Seele des Herzogs, kein Zweifel daran soll bleiben. Wie stecken so tief mit drin wie vorher nie und nachher vermutlich nie mehr.
Die Musik übernimmt jetzt aber, das Orchester mit dunklem Funkeln, mit sinfonischen Ausbrüchen, mit einem gewaltigen Stereoaffekt, als Trompeten und Posaunen beim Ausblick auf Blaubarts Land hinter der fünften Tür von der anderen Seite aus dem Orchester entgegenblasen. Der Kontrast zwischen der Wucht und der wässrigen Nacht, die Judit nicht übersieht – ihre fahle Reaktion lässt es musikalisch erkennen, – kann nicht größer sein als hier. Auch wenn die Inszenierung im Detail jetzt manchmal etwas simpel verziert wirkt – schwarze Ballons, die einer Mülltonne entsteigen, rosa Blüten in einem Korb, rote Äpfel in einem anderen –, bleibt die Umgebung überwältigend. Und füllen Mahnke – schon in Frankfurt eine sensationelle Judit – und Struckmann sie mit überwältigendem Ernst: als Figuren, die ihre Gefühle glaubhaft nach innen verlegen, als Stimmen, die die Halle, noch dazu vor dem Orchester platziert, so beiläufig füllen, dass fast aller gellender Schrecken doch auch der nuancierteste Wohlklang ist.
Der Verzicht auf jede Vordergründigkeit lässt Judit in einer Einsamkeit zurück, die selbst die mit allen Wassern gewaschene Musiktheaterroutine so selten schafft.
English:
In the realm of the dead of his soul
Elaborately and with great effect, Hans Op de Beeck sets up Bartók's "Duke Bluebeard's Castle" in the parcel post office in Stuttgart.
The events in Béla Bartók's one-act opera "Bluebeard's Castle", which was premiered in 1918 on a libretto by Béla Balász, are so monstrous and incomprehensible that many stagings try to gain ground under abstractions. Even if every reasonable person presupposes that Judit, who has just arrived at her groom's house, does not literally encounter torture and armoury chambers, lingering tears, bleeding plants and virtually dead predecessors, there is a great darkness in the soul of the wealthy aristocrat. For, hopefully, it will only be the glimpse into his seven 'soul-realms' that Judit forces her beloved - a good but stormy game. But is "hopefully only" the right turn here? Of course not.
Even Hans Op de Beeck abstracted, but only with a view to the horror behind the non-existent Stuttgart doors. As far as the Bluebeard's soul sump is concerned, as far as the sadness of death is concerned, the public is seldom brought in as deeply and directly as now in the parcel post office. Here, the Belgian artist and director shows his production for the Stuttgart Opera.
"Introduced" is just the right turn again. Before entering the big, horribly dark hall, there are rubber overshoes for everyone. In small groups, we go in, led by entrancingly friendly staff, this also introduces the plot (simply but well: no, these two should not have been a couple, and yet something like that happens again and again). Fully ankle deep is the water, you have to walk slowly and watch out. You can see a kind of bridge in the middle, bare trees, sand hills, miserable bulbs, strangely also bicycles, ancient bicycles, but above all nobody wants to lose sight of his leader. Those who have reached their row and place, can look in peace. As the human snakes are wading through the black, spot-lit water, always new ones arrive. In between the jetty, hills, branches and bicycles. In addition there is brass, alluding to Bártok. Sometimes it breathes loud, whispers.
This is not a nightly mudflat hike, that's a fantasy about the realm of the dead. If it were the realm of the dead, it could look and feel like this. Not bad, not overly exciting, more quiet, and people are only quiet shadows, they are unknown.
That continues for a while. Some can not get enough of it, the others do. No one is fussing.
As all sit on both sides of the footbridge, the conductor Titus Engel, only dimly seen, comes on a bicycle. Not unexpectedly, but suddenly the orchestra became visible at the end of the bridge. The music begins. Judit approaches through the water with a big backpack. Bluebeard also has a bike with him. Judit is timid, but interested. Bluebeard knows his way around but is a bit abash. Claudia Mahnke touches Falk Struckmann's chest and realises that the walls are damp. The realm of the dead is the heart and soul of the Duke, there is no doubt about it. We are as deeply involved as never before and never again afterwards.
But the music takes over now, the orchestra with dark twinkling, symphonic outbursts, with a huge stereo affect, as trumpets and trombones blow over Bluebeard's land behind the fifth door - from the other side of the orchestra. There is a contrast between the force and the watery night, which Judit does not overlook - her pale reaction makes it musically recognisable - it can not be bigger than here. Although the detailing of the production can sometimes seem a bit simple - black balloons rising from a garbage can, pink flowers in a basket, red apples in another - the environment remains overwhelming. And it is filled by Mahnke - already
a sensational Judit in Frankfurt - and Struckmann with overwhelming seriousness: as characters who credibly transfer their feelings to the inside, as voices that so casually fill the hall, in front of the orchestra, with almost all but the most subtle euphony.
The abandonment of any superficiality leaves Judit in a loneliness which is rarely created in the opera genre, one that has been washed with all its might.