Hans Op de Beeck: Stille Aquarelle sind tief
Wiener Zeitung, 21 July 2021
Der Belgier beweist in der Galerie Krinzinger, dass er eben nicht nur graue Skulpturen machen kann, sondern auch schwarzweiße Aquarelle malen.
Was man hier sieht, das stammt alles von der dunklen Seite des Tages, also aus der Nacht. Und das ist bekanntlich jene magische Zeit, die Katzen in graue Mäuse verwandelt. Angeblich. Katzen oder Mäuse kommen in der aktuellen Ausstellung von Hans Op de Beeck trotzdem keine vor. (Dafür Fische, Karussellpferde, ein Schmetterling . . .)
Einen Namen gemacht hat sich der Landsmann von Hercule Poirot (freilich einer, der echt ist und keine literarische Figur) ja in erster Linie mit seinem Oeuvre in 3D. Skulpturales, ungemein detailreich und oft ins Installative ausufernd, zwischen Realität und Traumwirklichkeit. Und dass er sich dabei auf eine einzige Farbe beschränkt, noch dazu eine unbunte: Grau. Die vielleicht durchschnittlichste Farbe überhaupt. Extra-Extra-Grey sozusagen. Ein Kompromiss zwischen Hell und Dunkel.
Zweidimensionaler geht es jetzt in den Räumlichkeiten der Galerie Krinzinger zu: "Works on Paper." Doch auch in den Aquarellen, an denen allerdings lediglich das Papier flach ist, während die Malerei sogar die Tiefen des Weltalls erahnen lässt, kreischen keine Schreifarben herum. Diese geheimnisvollen Notturnos (meist im Atelier angefertigt, wenn es draußen schon finster war) träumen vielmehr in Schwarzweiß. Und Schwarz plus Weiß ergibt? In dem Fall aber mehr als bloß "ONE Shade of Grey". Womöglich FIFTY.
Nuancenreiche Porträts, Landschaften, Stillleben in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen oder pur. Seine Modelle (unglaublich präsent, selbst wenn sie ein bissl abwesend wirken, introvertiert sind, in ihren Gedanken versunken – und mit den andern hat man sowieso intensiven Blickkontakt) setzt Op de Beeck (Jahrgang 1969) zum Beispiel kurzerhand in der Wildnis aus. Betonung auf setzen. Zumindest bietet er ihnen immer höflich einen Sitzplatz an. Einen Hocker oder Sessel. (Oder er tätowiert ihnen die Bäume gleich auf den Rücken. Zum Zeichen ihrer Naturverbundenheit.) Wobei der Wald bei allem Realismus durchaus was Kulissenhaftes hat. Na ja, der Universalkünstler dreht eben nicht nur außerdem Kunstfilme, er hat obendrein Bühnenerfahrung. Als Dramatiker, Theater- und Opernregisseur, Bühnen- und Kostümbildner. Der kennt sich aus mit dem Inszenieren.
Einer, ein gewisser Romeo, schwebt mit seinem Ledersofa in den Wolken, Timo spielt, Tschuldigung: HÄLT ein Zupfinstrument (denn sogar die Laute ist leise, erzeugt das leiseste aller Geräusche, macht es förmlich sichtbar: die Stille), oder ein altes, historisches Karussell mit weißen Pferdln wird ohne Reiter und Musik in die Einsamkeit entrückt (auf eine entlegene Wiese – "Dreamscape"). Und fast über allem und jedem (folglich über dem traurigen Clown genauso) öffnet sich der Himmel zum Universum, zum großen Ganzen, strahlen unzählige Sterne.
Das Licht, ob von den kosmischen Sonnen oder irdischen Lustern, wird übrigens nicht mit Deckweiß "betrieben", sondern mit Papier. Das leuchtet durch die diffus zerrinnende Finsternis. Witzigerweise passt der Plafond der Galerie perfekt dazu. Zwischen den Nackerten, die sich dort droben scheinbar schwerelos im Stuck materialisieren und deren Rundungen kokett aus der Decke herausschwellen, simulieren immerhin viele kleine Lamperln einen Sternenhimmel.
Und die Nachtstücke an den Wänden? Schwarze Romantik. Wie aus der REM-Phase. Märchenhaft. Oder unheimlich. Oder beides. Mit einer eigentümlich unwirklichen Stimmung jedenfalls. Ein Boot gleitet beschaulich über einen See, ein Riesenrad taucht im Gebirge neben schneebedeckten Fichten aus einer dichten Nebeldecke auf. Und der Künstler zählt Fische statt Schäfchen (okay, er will sich beim Malen wahrscheinlich nicht einschläfern): "One Fish", "Two Fish" . . . – bis drei ist er offenbar nicht gekommen. Da schwimmen die Fische (oder eigentlich schweben sie) im Aquarell, das plötzlich zum Aquarium wird. Aquarelle SIND nun einmal Gewässer. Zuerst fließende und sobald sie getrocknet sind: stehende. (Nein, falsch: hängende.)
Die Zeit ist ebenfalls stehengeblieben, zum surrealen Moment geronnen. In einem besonders eindringlichen gemahnt ein Totenkopf an die Sterblichkeit. Ein Vanitas-Stillleben. Und ein solches ist generell eine unterschwellige Todesdrohung. (Wie das Ende von "Wandrers Nachtlied", von diesem Goethe-Gedicht, das sich als harmlose Naturlyrik tarnt: "Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest du auch." Nämlich in Frieden. R. I. P.) Der Schmetterling ist auf der blanken Glatze gelandet wie die Hoffnung höchstpersönlich, die fragil ist wie dieser Falter selbst, den man wiederum als klassisches christliches Symbol für das Leben nach dem Tod deuten kann. Für die Seele, die den diesseitigen Körper zurücklässt wie einen leeren Kokon.
Über allen Gipfeln ist Ruh – und überall ist die Lust am Malen unübersehbar und korrespondiert unweigerlich mit der Lust am Schauen aufseiten des Publikums. Sämtliche Aggregatzustände werden in ihrer Stofflichkeit mit sensiblem Pinsel eingefangen: die tätowierte Haut (Tattoos werden zu Zeichnungen innerhalb der Malerei, zu Bildern im Bild), die spiegelnde Wasseroberfläche, der dekorativ dampfende Tee (der auf das duftige Gewölk vorm Fenster antwortet), die Unendlichkeit. Unendlich ist neben fest, flüssig und gasförmig der vierte Aggregatzustand? – Nicht direkt.
"Ich hoffe, dass meine Werke wie eine tröstende Hand auf der Schulter, eine warme Umarmung und eine mentale Oase der Ruhe sind", wird Op de Beeck im Pressetext zitiert. Seine sinnlichen Aquarelle stehen seinem raumgreifenden Grau definitiv in nichts nach. Intimes in imposanter Größe. Und so ein Landschaftspanorama kann locker drei Meter lang sein. Nicht, dass es auf die Länge ANKÄME. Bei einem Panoramabild höchstens insofern, als es tunlichst länger sein sollte als hoch.
English:
Hans Op de Beeck: Silent watercolors are deep
The Belgian proves in Galerie Krinzinger that he can not only make gray sculptures, but also paint black and white watercolors.
What you see here, it all comes from the dark side of the day, i.e. from the night. And this is known to be the magical time that turns cats into gray mice. Allegedly. Cats or mice still do not appear in the current exhibition of Hans Op de Beeck. (For this, fish, carousel horses, a butterfly. . .)
The compatriot of Hercule Poirot (of course one who is genuine and not a literary figure) has made a name for himself primarily with his oeuvre in 3D. Sculpture, incredibly detailed and often sprawling into the installative, between reality and dream reality. And that he confines himself to a single color, plus an uncolored one: gray. Perhaps the most average color ever. Extra-Extra-Grey, so to speak. A compromise between light and dark.
It is now more two-dimensional in the premises of Galerie Krinzinger: "Works on Paper." But even in the watercolors, on which only the paper is flat, while painting even suggests the depths of space, no screaming colors scream around. These mysterious emergency gymnasts (mostly made in the studio when it was already dark outside) dream rather in black and white. And black plus white results? In this case, however, more than just "ONE Shade of Grey". Possibly FIFTY.
Nuanced portraits, landscapes, still lifes in different mixing ratios or pure. His models (incredibly present, even if they seem a bit absent, are introverted, immersed in their thoughts - and with the others you have intensive eye contact anyway) expose Op de Beeck (born in 1969), for example, without further ado in the wilderness. Emphasis on putting on. At least he always politely offers them a seat. A stool or armchair. (Or he tattoos the trees on their backs right away. As a sign of their closeness to nature.) Although the forest has something backdrop-like despite all the realism. Well, the universal artist not only makes art films, he also has stage experience. As a playwright, theater and opera director, stage and costume designer. He knows how to stage.
One, a certain Romeo, floats in the clouds with his leather sofa, Timo plays, sorry: he plucks an instrument (because even the lute is quiet, produces the quietest of all sounds, makes it literally visible: the silence), or an old, historic carousel with white horses is moved into loneliness without rider and music (on a remote meadow - "Dreamscape"). And almost above everything and everyone (following over the sad clown as well) the sky opens up to the universe, to the big picture, countless stars shine.
By the way, the light, whether from the cosmic suns or earthly chandeliers, is not "operated" with opaque white, but with paper. This shines through the diffusely melting darkness. Funny enough, the ceiling of the gallery fits perfectly with it. Between the nackers, who materialize there seemingly weightlessly in stucco and whose curves swell flirtatiously out of the ceiling, many small lamps simulate a starry sky.
And the night pieces on the walls? Black romance. As from the REM phase. Fairytale. Or scary. Or both. With a peculiarly unreal mood anyway. A boat glides peacefully over a lake, a Ferris wheel appears in the mountains next to snow-covered spruce from a dense fog blanket. And the artist counts fish instead of sheep (okay, he probably doesn't want to fall asleep while painting): "One Fish", "Two Fish" . . . - he obviously didn't come to three. There the fish (or actually they float) in watercolor, which suddenly becomes an aquarium. Watercolors ARE waters. First flowing and once they are dried: standing. (No, wrong: hanging.)
Time has also stopped, clotted to a surreal moment. In a particularly powerful one, a skull reminds of mortality. A Vanitas still life. And such a threat of death is generally a subliminal threat of death. (Like the end of Wanderer's Night Song, of this Goethe poem, which disguises itself as harmless natural poetry: "Above all peaks / Is Quiet, / In all tops / You feel / Hardly a breath; / The birds remain silent in the forest. / Just wait, soon / Will you rest, too." Namely in peace. R. I. P.) The butterfly has landed on the bare baldness like hope itself, which is fragile like this butterfly itself, which in turn can be interpreted as a classic Christian symbol of life after death. For the soul, which leaves the body on this side like an empty cocoon.
There is rest above all peaks - and everywhere the desire to paint is unmistakable and inevitably corresponds to the desire to look on the part of the audience. All aggregate states are captured in their materiality with a sensitive brush: the tattooed skin (tattoos become drawings within the painting, pictures in the picture), the reflective water surface, the decoratively steaming tea (which responds to the fragrant vault in front of the window), infinity. Infinity is the fourth physical state in addition to solid, liquid and gaseous? - Not direct.
I hope that my works are like a comforting hand on my shoulder, a warm hug and a mental oasis of peace, Op de Beeck is quoted in the press release. His sensual watercolors are definitely in no way inferior to his spacious gray. Intimate in imposing size. And such a landscape panorama can easily be three meters long. Not that it comes to the length. In the case of a panoramic image, at most insofar as it should be longer than high.