Hans Op de Beecks andere Welten Torten schlemmen mit Alice
Kerstin Stremmel | Neue Zürcher Zeitung, 22 April 2017
In Hans Op de Beecks Wunderland fühlt man sich an die Perspektivwechsel der Alice erinnert, gibt es doch häufig Massstabsvergrösserungen oder -verkleinerungen in seinen skrupulös gebauten Modellen.
«Trink mich» steht in schönen grossen Lettern auf dem Pappschild um den Hals der Flasche, die Alice im Wunderland entdeckt. Der Genuss einer Flüssigkeit, die nach Kirschtörtchen, Vanillesauce, Ananas, Gänsebraten, Caramel und frischer Buttersemmel schmeckt, lässt das Mädchen auf die Grösse einer Spanne schrumpfen, erst der Verzehr eines wohlschmeckenden Kuchens, auf dem mit Rosinen die Worte «Iss mich» geschrieben sind, lässt sie wieder wachsen, diesmal in eine Höhe von drei Metern.
In Hans Op de Beecks Wunderland fühlt man sich an die Perspektivwechsel der neugierigen Alice erinnert, gibt es doch häufig Massstabsvergrösserungen oder -verkleinerungen in seinen skrupulös gebauten Modellen. Diese Methode setzte der 1969 geborene Künstler erstmals 1998 bei «Location» ein, einer in Brusthöhe arrangierten, nachgebauten Strassenkreuzung, die an eine reduzierte Modelleisenbahnlandschaft erinnert. Erstaunlich lange ist man bereit, auf die winterlichen Fahrbahnen zu blicken, auf denen niemand unterwegs ist und nur die Verkehrsampeln von Rot auf Grün und retour springen. Unter anderem liegt es daran, dass man sofort ein ganzes Repertoire möglicher Filmszenen nach Drehbüchern von David Lynch oder den Coen-Brüdern vor Augen hat.
Der «Table» hingegen ist im Massstab 1,5:1 gebaut, eine überdimensionierte Kaffeetafel mit in Crèmetorte versinkenden, kinderfaustgrossen Erdbeeren, Schlieren und Resten auf den Tellern und überquellenden Aschenbechern. Die Feier, an der neben Alice vielleicht auch der Schnapphase und der verrückte Hutmacher teilgenommen haben, ist vorbei, das Gefühl, sich überfressen zu haben, bleibt.
Das Drehbuch in unserem Kopf
Diese Werke sind derzeit im Kunstmuseum Wolfsburg in einer aufwendig inszenierten Retrospektive zu sehen. Zunächst betritt der Besucher «The Collector's House», ein Highlight auf der letztjährigen Art Basel, der wie das Atrium einer eher eklektizistisch als exquisit eingerichteten Villa wirkt, bis hin zu einem Becken mit Seerosen aus Glas in der Mitte. Wie immer, wenn Op de Beeck wie hier im Massstab 1:1 arbeitet, werden die wirklichkeitsgetreu gestalteten Details verfremdet, bis hin zu den Überresten einer Party, die offenbar stattgefunden hat; leere Pizza-Packungen, Bierflaschen und Cola-Dosen, die im Becken schwimmen: Alles ist mit einer stumpfen grauen Schicht, die pudrig wie Asche oder dichter Staub wirkt, überzogen.
Die Künstlichkeit und Akribie erinnert an Filmsets, die der schwedische Regisseur Roy Andersson über Wochen in seinem Studio bauen lässt und dann oft nur für eine einzige Kameraeinstellung benutzt. Bei Hans Op de Beeck sind wir es, die immer irgendwie unpassend gekleideten Besucher, die sich ein Drehbuch überlegen müssen.
In diesem Raum wirkt alles bekannt und fremd zugleich und ist in seiner reduzierten Farbigkeit weniger langweilig als beruhigend und irgendwie zeitgemäss entschleunigend. Die Schatzkammer des Sammlers wird in Wolfsburg durch einen Balkon ergänzt. Von hier aus hat man einen Blick auf eine düstere Unterstadt, das Szenario erinnert an den Film «Metropolis». Allerdings gibt es in den Häusern keinen lauten und ekstatischen Rausch wie in der Yoshiwara-Bar zu entdecken, die Gebäude beherbergen weitere Installationen, Videos und Modelle, die Op de Beeck geschaffen hat.
Unten angekommen, irrt man in der Düsternis an Strassenmüll, Strommasten und brennenden Tonnen vorbei, und das Ganze wirkt so verwinkelt, dass man allmählich seinem eigenen Rhythmus folgt, am leise plätschernden Brunnen verweilt und sich Zeit nimmt für das, was aus Gewöhnlichem geschaffen wurde und doch so ungewöhnlich wirkt – «Out of the Ordinary», so lautet der Titel der Ausstellung. Und am besten funktioniert das, wenn man ganz alleine in der Ausstellung ist – ein Glück, das man in der VW-Stadt durchaus haben kann, wo einen der Taxifahrer, wenn man als Zielort Museum angibt, ins beliebte Automuseum fährt.
Eine vollkommen andere Atmosphäre hat Op de Beeck mit «Silent Castle» in dem von ihm verzauberten Schloss Morsbroich bei Leverkusen geschaffen. In diesem Museum sind einzelne Elemente wie Seerosenteich, Konzertflügel oder die Wunderkammer-Utensilien über die Etagen verteilt und entwickeln ihr Eigenleben. Durch einen schalldämpfenden Teppich, Blicke nach draussen und motivische Wiederholungen fügt sich auch hier alles zusammen.
Die Zuckerwürfel-Skyline
Die vielleicht stärkste Arbeit des Künstlers ist an beiden Orten zu sehen, Op de Beecks Video «Staging Silence (2)», das mit einer unter schwarzem Kaffee langsam einfallenden Zuckerwürfel-Skyline apokalyptisch endet. Immer wieder werden in diesem Film magische Welten gebaut, aus Plasticflaschen entstehen realistisch wirkende Metropolen, aus Watte Wolken, und eine Lampe wird zur überzeugenden Sonne, immer wieder sieht man die bauenden Hände des Demiurgen, und immer wieder findet eine Entzauberung statt.
Dabei bleibt der Film ebenso ruhig wie poetisch – nicht anders als der ebenfalls an beiden Orten gezeigte Animationsfilm «Night Time», der anhand einer Reihe atmosphärisch dichter Szenen zu einer assoziationsreichen Reise durch die Nacht einlädt. In Morsbroich sind zudem einige der nachts entstandenen, grossformatigen Aquarelle zu sehen, auf denen dieser Film basiert.
Eine weitere Facette des Belgiers, der seine Kunst ohne Koketterie als selbsttherapeutisch bezeichnet, wird in seinem Grossprojekt «Sea of Tranquillity» deutlich, zu dem ein Breitwandfilm gehört. Der einzige Text in diesem Film ist ein virtuos vorgetragener, klassischer Jazzstandard, wie man denken könnte. Tatsächlich stammt auch der Song mit der Zeile «please let me drift away» von Op de Beeck, der hoffentlich noch weitere Szenarien (er)finden wird, die erfreulich wenig von jener Geisterbahn-Atmosphäre haben, mit der Gregor Schneider gern die Besucher seiner Ausstellungen überwältigt.
Neben aller Kontemplation wird man sich der Vergeblichkeit des Eskapismus in jedem Moment bewusst, die Arbeiten sind gespickt mit Memento-mori-Zitaten, von den Natures mortes bis hin zu Totenschädeln. Op de Beecks Gesamtwerk ist eine gelassene Eloge auf die Vergänglichkeit.
Im Museum Wolfsburg bis 3. September; im Museum Schloss Morsbroich bis 30. April.