Alb Traum Schiff
Heinz Peter Schwerfel | Art Magazine, 1 October 2012
Ein Schiff wird kommen. Nicht weiß, wie im Schlager, sondern grau und kriegerisch, ein Ozeanriese mit Muskeln, vorn windschnittige Aerodynamik, dahinter wuchernde Brutalität. „Eine Mischung von ,Queen Mary 2‘ und einem Entwurf von Zaha Hadid, einem Kriegsschiff und dem stählernen Remake von Melvilles Monsterwal“, witzelt Hans Op de Beeck, als er im Atelier in Brüssel die Entwürfe zur Sea of Tranquillity erklärt. Op de Beeck, geboren 1969 im belgischen Turnhout, ist einem größeren Publikum kaum bekannt und dennoch einer der vielseitigsten und spannendsten Künstler seiner Generation. Er verknüpft Hightech mit klassischer Kohlezeichnung und Aquarell, experimentiert mit Film und Foto, baut mal begehbare Modelle aus Sperrholz, mal ein gigantisches Krankenhaus als Computeranimation. Kurzgeschichten hat er ebenfalls veröffentlicht, eine Produktion von Glucks „Orfeo ed Euridice“ für das Ballett von Marseille hatte gerade Premiere.
Vor gut zwei Jahren, nach einem längeren Aufenthalt in der französischen Werftstadt Saint-Nazaire, wo auch die „Queen Mary 2“, eines der größten Kreuzfahrtschiffe der Welt, gebaut wurde, entwarf Op de Beeck ein Meeresmonster, das es nur im Computer gibt. Die Sea of Tranquillity ist ein virtueller Passagierdampfer in perfekter 3-D-Technik, bevölkert in im Studio nachgebauten Innenräumen mit einem Kapitän, der auf der Brücke über den Kurs wacht, und einer Jazzsängerin, die ein trauriges Lied singt, das – natürlich – der Künstler komponiert hat. Man sieht Passagiere bei der Massage im Spa, Küchenpersonal bei der Arbeit, aneinandergereihte Bilder, elegant und seelenlos, ohne jede Psychologie oder Botschaft. „Der Hauptgrund, warum ich alles selbst mache, ist, dass jedes einzelne Teil perfekt sein muss. Der Trick ist die Anmutung, die konsequente Ästhetik jedes Werks. Schönheit ist wichtig. Eigener Geschmack kommt nicht vor.“
Ein Schiff wird kommen und uns mitnehmen auf eine seltsame Reise, die gerade mal eine halbe Stunde dauert und dennoch keine Rückkehr kennt. Nicht dass die Tour dramatisch verlaufen würde, wie die Irrfahrten des Odysseus oder der Schiffbruch der arroganten „Costa Concordia“, die immer noch pathetisch vor einer italienischen Mittelmeerinsel auf Grund liegt. Op de Beeck ist weder Erzähler noch Realist, in all seinen Arbeiten, auch seinen Filmen, passiert so gut wie nichts. Es sind die Filme eines Malers, sie bestehen aus Bildern, Szenenfolgen ohne jede Geschichte. Situationen, in denen die Zeit langsam zum Erliegen kommt, Existenzin die Windstille gerät.
Film- und Schiffsnamen Sea of Tranquillity kann man übersetzen mit „Meer der Ruhe“, aber auch „Meeresruhe“, Metapher für eine Seelenlage, für die die griechische Philosophie das Wort Ataraxie erfand.
Ataraxie ist ein metaphysischer Seinszustand, die Aufgabe jedes Strebens nach Wahrheit. Wir wissen, dass wir nichts wissen, und verharren deshalb in seliger Melancholie, Teil von etwas Großem, das wir nicht begreifen können. Natur, Zeit, Existenz, Gott – das Sublime hat viele Namen. Anfangdes 19. Jahrhunderts malte Caspar David Friedrich solche Szenen, in denen der winzige Wanderer aufgeht in Kreidefelsen, Bergen, Eislandschaften. Hans Op de Beeck ist ein Romantiker der Gegenwart – einer Gegenwart, in der Natur leider gezähmt und das Sublime Zivilisation geworden ist. Aus einem See wird ein Teich, aus Wildnis ein Park, wie im Animationsfilm „Gardening“ (2001). Und aus Kreidefelsen ein gigantisches Einkaufszentrum, wie wir es aus Vorstädten kennen, im über 70 Quadratmeter großen Architekturmodell „T-Mart“ (2004/05), einem Konsumtempel mit offenem Dach und leeren Parkplätzen, deren Laternen sich durch die Tageszeiten dimmen.
Und aus Eislandschaften wird Kunstschnee. „Location (6)“ aus dem Jahr 2008 ist eine begehbare Installation, vier Meter hoch, mit einem Durchmesser von 18 Metern. Von außen ein kreisrunder Holzbau, ähnlich den Panorama-Pavillons des 19. Jahrhunderts, nur mit einem angehängten, langen Korridor. Durch diesen kommt der Betrachter in einen erhöhten, rundum verglasten Raum. Er setzt sich auf eine Bank und schaut nach draußen: weites, nebliges,schneebedecktes Land, leer bis auf einige kahle Bäume und zugefrorene Wasserlöcher.
Ein Wintermärchen. Der Effekt ist unglaublich. Op de Beeck baut im Modell eine ideale Welt, erfindet einen falschen Horizont, fingiert eine Zentralperspektive der Unendlichkeit. Der Betrachter wird Teil des Werks und ist ebenso überwältigt, wie unsere Ahnen es vor einem Friedrich-Gemälde waren. Trompel’oeil- Räume als Kirmesattraktion gibt es seit der Renaissance, heute sind sie Wunderkammern der Technik in effektheischenden Abenteuerparks wie Phantasia- und Disneyland. Viel stiller diese unscheinbare, mit Hammer und Nagel gezimmerte, menschenleere Welt, deren Weiß der Schneelandschaft für existenzielle Leere steht, aber auch an die Sehnsucht der Spätromantiker nach dem hohen Norden erinnert, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts aufkam. Und an billigen Kalenderkitsch.
Das ist ein großer Unterschied von Op de Beeck zu den deutschen Romantikern: Der Belgier hat Humor. „Kunstschnee und Winterlandschaft, natürlich ist das sentimental und gefährlich. Ich setze in meinen Arbeiten immer auf die Ambivalenz der perfekten Form, auf Mehrdeutigkeit. Etwas ist schön und schrecklich zugleich. Ich spiele mit der Mischung der Gefühle, und Sentimentalität ist nun mal die Kitschform von Gefühl.“ Er lacht. „Das Schlimme ist nur, dass sie funktioniert! Man braucht sich nur die Disney-Filme anzuschauen.“ Von dessen heiler Zeichentrickwelt zu Op de Beecks Installationen ist es ein weiter Weg auf schmalem Grat. Der Künstler liebt solche Gratwanderungen, holt Hollywood ins Museum, indem er Klischeebilder, Kunstschnee und Lichteffekte benutzt. Lässt uns allein mit seinen optischen Tricks, setzt uns in eine Welt, die wir – nicht ohne anfängliches Misstrauen – schließlich als die unsere akzeptieren, weil wir überwältigt sind. Überwältigt von der Melancholie der Vergänglichkeit, wobei diese nie in Nostalgie nach dem Vergangenen fällt, sondern immer mit der Jetzt-Zeit zu tun hat.
Op de Beeck hat in Brüssel, Antwerpen und Amsterdam Kunst studiert, sein Atelier liegt unweit der Brüsseler Metrostation Jacques Brel. Hier kaufte er vor drei Jahren einen ehemaligen Handwerksbetrieb auf. Ebenerdig ein Lager und Platz für die Modellbauten, im ersten Stock das Büro der Assistenten und hinter einer Glaswand das eigentliche Atelier, konzentriert auf das Wesentliche: Computer, Arbeitstische, ein Fotostudio. Wie seine Installationen Extension (1) und Extension (2) räumliche Erweiterungen des menschlichen Körpers, aufs Nötigste beschränktes Zweckdesign, aber mit spezifischer Funktion. Einmal eine Intensivstation, mit Krankenbett, Kanülen, Apparaturen und einer Armee von Metallständern für Tropfinjektionen. Oder ein verlassenes Büro, mit Schreibtisch, Computer, Stuhl, alles aus Papier und Karton gebaut, mit kaltem Neonlicht beleuchtet. Ein– natürlich falsches – Faxgerät blinkt, daneben ein Drucker. Räume menschlicher Einsamkeit, die Welt der Maschinen.
„Einsamkeit“, sagt Op de Beeck, „kann aber auch tröstlich sein.“ Deshalb seine ewige Suche nach Schönheit, sein Stilisieren von Farbe und Form. Seine Modelle wirken immer perfekt, ob sie aus Sperrholz, Pappe oder Pixeln sind. Dabei sind sie meist absolute unspektakulär, Gebrauchsarchitektur: ein Krankenzimmer, ein Einkaufszentrum, eine Straßenkreuzung. Aufwendig gebaute dreidimensionale Gemälde mit dezenter Tonspur und computergesteuerten Lichteffekten, von Op de Beeck und vier Assistenten in oft monatelanger Arbeit gebaut.
Sein vielleicht bekanntestes Werk ist „Location (5)“ aus dem Jahr 2004, 9,6 × 14 × 6,2 Meter groß, das Modell einer Autobahnraststätte, wie wir alle sie von unseren Reisen kennen. Die Besucher nehmen am Fenster Platz und blicken hinunter auf eine Autobahn, die in die Ferne führt und hinter dem Horizont zu verschwinden scheint – das schlimmste Klischee, das man sich vorstellen kann. „Aber ich liebe Klischees, benutze sie immer wieder. Unter all den Bildern funktionieren Klischees wie Archetypen.“ Ein begehbarer Archetypus, den man im Kopf mit sich trägt, in dem man aber auch Platz nehmen und in eine künstliche Welt schauen kann. Fehlt nur der Sonnenunter gang, doch kommt Pathos nicht vor, ebenso wenig wie Realismus. „Malerei ist auch nicht realistisch. Meine Arbeiten sind Wiedergaben der Realität, wie ich sie interpretiere.“
Die Welt, wie Hans Op de Beeck sie sieht, ist kein Freudenfest. Im aus vielen Zeichnungen bestehenden Animationsfilm Loss von 2004 blickt der Zuschauer durch ein Fenster auf eine nächtliche Stadt. Zu ernster Musik verwandelt sie sich durch ständige Überblendungen in eine Ruinenlandschaft wie nach einer Atomkatastrophe. Auch in seinem letzten großen Modell, gezeigt 2011 am Rande der Biennale von Venedig, bleiben nur mehr Spuren menschlichen Lebens. In einem nur schwer zu erreichenden Teil des Arsenale aufgebaut, stieg man über eine Treppe in den ersten Stock eines Hauses, trat ans Fenster und schaute auf einen lebensgroßen Innenhof mit bunten Lichtgirlanden und einem illuminierten Springbrunnen. Ein Fest musste hier stattgefunden haben, doch nun war kein Mensch mehr zu sehen. Alles – Haus, Hof, Brunnen – grau lackiert, ein modernes Pompeji, begrabenunter der Asche der Zeit.